Sexsucht – Information für Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen
Gastbeitrag von Dr. Rudolf Mraz, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie
Diagnose
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen gibt auf Grund von Untersuchungen an, dass etwa 5% der Bevölkerung sexsüchtig sind. Im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen ist jedoch bei einer Suchterkrankung für eine Genesung die Selbstdiagnose der Betroffenen die unabdingbare Voraussetzung damit Genesung beginnen kann. Dazu reichen allerdings nicht Erkenntnisse aus wie: „Ich habe Probleme“, „Meine Partnerin meckert immer“, „Ich bin bei meinem Arbeitgeber aufgeflogen“. Für eine notwendende Diagnose ist die Erkenntnis wichtig, dass die Sexualität unentrinnbar das eigene Wollen beherrscht, dass der Preis für das Ausleben der Phantasien und der diesbezüglichen Antriebe und Bedürfnisse so hoch geworden ist, dass das Leben oder wichtige Aspekte des Lebens nicht mehr beherrschbar sind. Dies gilt sowohl für Männer als auch für Frauen, wenn auch die Formen von sexsüchtigem Agieren bei Männern und Frauen prozentual unterschiedlich verteilt sein können.
Symptomatik
Bei dieser Erkenntnis werden sex- und beziehungssüchtige Menschen auf ein Leben und Erleben blicken, das voll ist an Kränkungen anderer Menschen; auf einen Zeitaufwand für sexuelles Agieren, hinter dem private und soziale Verpflichtungen zurücktreten; auf Denkzwänge, die für nichts anderes mehr einen Platz lassen, als für sexuelle Phantasien; auf ein „immer mehr“, das sich ausweitet in Bereiche, die ursprünglich gar nicht zum eigenen Erleben gehörten: z.B. finden sich heterosexuelle Menschen dann wieder in homosexuellem oder lesbischem Ausagieren oder sie finden sich wieder im Darknet auf kinderpornographischen oder sodomistischen Seiten. Sie entdecken an sich, dass sie sich bezüglich der Sexualität immer wieder weit außerhalb ihrer eigenen moralischen Grenzen bewegen und Familie und Freunde kränken, obwohl sie diese lieben. Sie bemerken, dass sie sich ungenügend vor Krankheiten schützen, Sexualkontakte mit Personen eingehen, die sie eigentlich gar nicht anziehend finden und deshalb erst einmal Alkohol brauchen, um Ekel zu überwinden. Sie erleben, dass sie sich finanziell durch Prostituiertenbesuche und Gebühren für Kontakt- und Pornoportale verausgaben. Sie erkennen, dass sie sich in gefährliche Situationen begeben und sich in Kreisen bewegen, die nicht ihrem genuinen sozialen Umfeld entsprechen.
Ein Teil der sex- und beziehungssüchtigen Menschen sind aus mangelnder sozialer Kompetenz oder wegen körperlicher Einschränkungen nicht fähig im direkten Kontakt Sexualität zu erleben. Sie können in zwanghafter Onanie, Pornovideos und Partnerforen untergehen.
Physiologie
Sexsucht hat nichts mit bestimmten Hormonwerten zu tun. Bei sexsüchtigen Menschen ist die Hormonlage in der Regel im altersentsprechenden Durchschnitt. Auch Medikamente, die die Libido verstärken (Parkinsonmittel) oder verringern (einige Antidepressiva) haben nichts mit Sucht zu tun. Libido ist nicht gleich Sucht. Es gibt ältere sexsüchtige Menschen, die an sich keine Libido mehr erleben, deren Leben aber vollständig sexualisiert ist. Sexsucht ist primär ein seelisches und (von vielen Sexsüchtigen in der Genesung erlebt) geistiges Problem, das sich in bestimmten Verhaltensmustern und Denkschleifen fixiert, die sich durch die situativen Highs selbst verstärken (auf die Gehirnphysiologie der Transmitter möchte ich hier nicht eingehen). Viele Sex-und Beziehungssüchtige sind daher auch in anderen Bereichen süchtig, an vorderster Häufigkeit mit Alkohol. Dort, wo sich sexsüchtige Menschen zu einer Scene organisiert haben, spielen neben Alkohol Amphetamine eine besondere Rolle.
Angehörige
Dass Angehörige immer leiden ist nur ein Teil der Realität. Es kann sein, dass sie als erstes lernen, wie sie den süchtigen Partner / die süchtige Partnerin, über die Sucht an sich binden und die Beziehung kontrollieren können. In dieser Kompetenz werden sie zu Co-Abhängigen. D.h. sie wohnen nicht nur mit abhängigen Menschen zusammen sondern sie sind in ihrem spezifischen Verhalten selbst abhängig. Sie lernen ihre Partnerschaft zu kontrollieren: Auch wenn die gelebte Sexualität den eigenen Bedürfnissen nicht mehr entspricht ziehen sie es vor, auf die Wünsche der Partner einzugehen (z. B. Besuch von Swingerclubs). Irgendwann, wenn das „Mitmachen“ nicht mehr möglich ist, entwickeln sie ein Kontrollverhalten, bis auch sie, wie die süchtigen Menschen selbst, zu der Einsicht gelangen können: Ich bin dem Verhalten meines Partners gegenüber machtlos und kann mein und unser Leben nicht mehr meistern.
Therapie
Sich sexsüchtige Menschen als moralische Monster vorzustellen ist zumindest für das Klientel, das ich in den letzten 35 Jahren kennen gelernt habe unangebracht, selbst bei Delinquenz. Hingegen erleben sich die Sexsüchtigen selbst oft als solche. Durch den Zwang zu Heimlichkeit und Geheimnissen sind sie in eine immer größere innere Einsamkeit und Selbstabwertung geraten, die sie in einem Teufelskreis durch sexuelles Ausagieren zu erlösen versuchen. Die Kontaktaufnahme zu Ärzten und Therapeuten geschieht in der Regel dann, wenn Sexsüchtige in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz „aufgeflogen“ sind (z.B. Pornovideos) oder dass sie gelegentlich als Delinquenten von den Justizbehörden geschickt werden. Hier mit „Sexualtherapie“ oder der Bearbeitung tiefenpsychologischer Konflikte zu beginnen wäre kontraindiziert. Zunächst muss durch „facing reality“ (oft mit Hilfe des sozialen Umfelds) den Süchtigen das vielleicht nur vage erlebte „Ich weiß nicht mehr weiter“ zu einer existentiell erlebten Kapitulation gegenüber ihrer bisherigen Einstellungen und ihrem bisherigen Verhalten verholfen werden. Als nächstes müssen die Trigger zur Auslösung des Suchtverhaltens besprochen werden mit der Erarbeitung von Strategien zur Vermeidung dieser Auslöser. Dies ermöglicht den Süchtigen Abstinenz. Und wie bei Alkoholikern funktioniert die Erarbeitung einer nur stufenweisen Abstinenz in der Regel nicht. Dieses Vorgehen ist unbedingt notwendig, denn schon der nächste Rückfall kann den Verlust von Partnerschaft, Arbeit oder neuerliche Delinquenz bedeuten. Erst danach macht es guten Sinn nach den „Ursachen“ zu suchen; wobei es zunächst meist wichtiger ist, den Betroffenen Unterstützung bei der Rekonstruktion sozialer und partnerschaftlicher Beziehungen zu geben.
Eine unschätzbare Hilfe für sexsüchtige und beziehungssüchtige Menschen sind die entsprechenden Selbsthilfegruppen. In Deutschland sind das die AS (Anonyme Sexsüchtige) und die SLAA (Sex and Love Addicts Anonymous) sowie für die Angehörigen die S-Anon. Alle drei Gruppen orientieren sich am 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker. Ein Kernsatz aus diesen Gruppen lautet: „Nur du allein kannst es schaffen, aber du schaffst es nicht allein“. Dieses Paradoxon vermag manchen Klienten / manche Klientin zum Besuch dieser Selbsthilfegruppen zu motivieren. Das Genesungsziel, bzw. das Ziel einer Therapie ist zunächst zu erkennen, dass Sexsucht (bzw. generell süchtiges Verhalten und Erleben) nicht durch verstärkte Willensanstrengung überwunden werden kann sondern erst durch die rückhaltlose Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit. Diese Erfahrung ist so paradox, dass sie von vielen Genesenden als spiritueller Befreiungsprozess erlebt worden ist. Andere werden diesen Prozess mithilfe psychologischer Begriffe als einen „narzisstischen Zusammenbruch“ beschreiben; wieder Andere werden darauf verweisen, dass sie dies nur durch die rückhaltlose Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, gegenüber den Menschen in einer Selbsthilfegruppe oder gegenüber einem liebenden Menschen oder halt gebenden Psychotherapeuten „geschafft“ haben. Meist ist es erst durch solche oder ähnliche Erfahrungen, die viele als Zusammenbruch ihrer bisherigen Vorstellungen über sich und die soziale Umwelt erleben, für die Betroffenen möglich dauerhaft neue Einstellungen und Verhaltensweisen zu erreichen und den Unterschied zwischen Liebe / Sexualität auf der einen Seite und Liebes-/Beziehungssucht und Sexsucht auf der anderen Seite zu verstehen und in ein neues Leben zu integrieren.